„Da er Raat hieß, nannte ihn die ganze Stadt Unrat. Nichts konnte einfacher und natürlicher sein.“ Schon die ersten beiden Sätze der Romanvorlage zu diesem Kino-Klassiker lassen erkennen, welches Potenzial in dem Stoff steckte. Nur wenige deutsche Schriftsteller haben ihre Leser so prägnant in ihre Geschichte hineingezogen wie Heinrich Mann 1905 in seinen „Professor Unrat“.
25 Jahre später hatte es sich die Ufa zur Aufgabe gemacht, den Erfolg des Buches auf der Leinwand zu wiederholen – oder besser: zu übertreffen. Die Chancen standen nicht schlecht: Heinrich Mann hatte mit dem Kleinstadt-Lehrer eine wahre Ikone des Spießertums erschaffen, einen Typen, dessen steifgliedrige Besserwisserei mit seinem unerschütterlichen Willen zusammentraf, die Schüler zu bestrafen, statt ihnen etwas beizubringen; bis er der „Barfußtänzerin“ Rosa Fröhlich verfiel, die in einem Lokal mit dem schönen Namen „Der blaue Engel“ auftrat.
Rosa Fröhlich heißt im Film Lola Lola und war die Figur, die einer Schauspielerin zum Durchbruch verhalf, bei deren schierer Erwähnung manche Deutschen bis heute in Ekstase verfallen: Marlene Dietrich. Die Tochter eines Berliner Polizisten war bei den Dreharbeiten noch keine 30 Jahre alt, aber erstaunlich sicher in ihrem politischen Urteil. Jeder, der sich auch nur das kleinste Bisschen mit der Mimin mit der rauchigen Stimme beschäftigt hat, weiß, dass sie Deutschland verließ, als die braunen Herrscher an die Macht kamen, und in Hollywood zum Star aufstieg, der allen Lockungen der Nazis widerstand.
Vor dem Drehbeginn des „Blauen Engels“ gab es da allerdings ein geringfügiges Problem: Seit 1927 befand sich die Produktionsgesellschaft Ufa fest in deutschnationaler Hand. Sie gehörte zur Scherl-Gruppe, an deren Spitze der Pressemogul Alfred Hugenberg regierte. Aus dessen Blättern troff die Feindschaft gegen alles, was auch nur entfernt mit der Republik hätte zu tun haben können, also Intellektuelle, Freigeister – und auf Juden einzudreschen, das war die erklärte Lieblingsbeschäftigung vieler Redakteure. Wie hätte das Publikum, das diese Erzeugnisse konsumierte, Heinrich Mann da verzeihen können, eine Respektsperson wie den deutschen Lehrer auf dem Papier hinzurichten?
Doch hier kam noch einmal die heilsame Kraft der Marktwirtschaft ins Spiel. Vor allem der Sex, der in dieser Story steckte, versprach kommerziell eine derartig fette Ernte, dass die Bosse übereinkamen, ihre stramm vaterländische Gesinnung gnädigerweise beiseitezuschieben. Und sogar bereit waren, unsichere Kantonisten zu akzeptieren. Der Drehbuchschreiber Carl Zuckmayer war ein erklärter Gegner alles Rechten, der Regisseur Josef von Sternberg hatte einen jüdischen Hintergrund und schon in den USA gearbeitet.
Immerhin leuchtete Emil Jannings als kaputter Pädagoge allen Beteiligten ein. Die Besetzung der femme fatale dagegen geriet zur Schlacht: Namen wie Trude Hesterberg und Lucie Mannheim schwirrten durch die Luft, aber Sternberg war derartig besessen von der Idee, Marlene Dietrich die Tür nach Hollywood aufzustoßen, dass er damit kokettierte, das ganze Projekt mit größtmöglicher Geste platzen zu lassen, wenn man ihm seinen Willen versagt hätte.
Diese Nervosität setzte sich am Set fort: Da es sich um einen Tonfilm handelte, waren die Produktionskosten hoch, und die Crew strengte sich über alle Maßen an, wirklich jedes Klischee von kapriziösem Künstlertum mit Leben zu erfüllen: Sternberg kümmerte sich nur um Marlene Dietrich; die himmelte Sternberg dafür an, aber nur platonisch. Was Jannings ziemlich mies drauf brachte, denn schließlich hielt er sich für den Star, der schon im Vorfeld damit hatte leben müssen, weit weniger Geld für seine Bemühungen zu kassieren als Frau Dietrich.
Heinrich Mann war gegen Dietrich
Deutlich zur Erheiterung der Crew trug es Zeitzeugen zufolge bei, wenn Heinrich Mann bei den Dreharbeiten auftauchte und nölte, dass Trude Hesterberg die Rolle der Lola viel besser gestanden hätte als der Dietrich. Und auch Emil Jannings brachte der Schriftsteller gegen sich auf. Die beiden sahen sich einige abgedrehte Szenen an, der Mime gierte nach dem Lob des Intellektuellen, aber Heinrich Mann sagte nur: „Herr Jannings, den Erfolg dieses Films werden in erster Linie die nackten Oberschenkel der Frau Dietrich machen!“
Ob er damit richtig lag? Fest steht: Die Macher des „Blauen Engels“ hatten bestimmt kein Interesse daran, dass Marlene Dietrichs Laszivität hätte übersehen werden können, und spendierten ihr zum Auftritt mit Zylinder noch den Hit „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“. Auch die Storyline hatten sie noch verändert: Heinrich Manns Lehrer wird vom Spießer zum Anarchisten, er diktiert das Stadtgespräch, man könnte ihn deshalb als Hauptfigur einer fiktiven Gesellschaftsreportage bezeichnen.
Emil Jannings Film-Professor Immanuel Rath dagegen richtet sich persönlich für Dietrichs Lola zugrunde – wie es wohl einige Zeitgenossen getan hätten, die sich nach außen stramm national gaben und allermindestens von strenger Zucht und Ordnung schwafelten. Über sich selbst weist Jannings Figur aber nicht hinaus. Vermutlich war das ein Zugeständnis an den Massengeschmack und an Hugenberg & Co.; von diesem Lager zu verlangen, eine Art Defaitismus zu unterstützen, das wäre ungefähr so gewesen, wie einen Kommunisten darum anzugehen, einen Propagandastreifen fürs Image der Bourgeoisie zu sponsern.
Am 1. April 1930 feierte der Film im Berliner Gloria-Palast Premiere – und wurde danach weltweit zu einem kommerziellen Hit, der Marlene Dietrich in den USA tatsächlich zum Star machte. Auf die erste Vorführung folgte eine rauschende Nacht in einer Stadt, die dem Untergang bereits entgegentorkelte. Ein Zucken des freiheitlichen Irrwitzes, bevor braune Uniformen, Gleichschritt und Parolengebrüll die Reichshauptstadt zu einem Ort machten, von dem schlimmste Verbrechen gegen die Menschheit ausgingen.
Die Verluste, die dieser Geist nach sich zog, sind bis heute zu spüren – in eine Gegenwart hinein, die Marlene Dietrich nicht nur wegen ihrer Darbietungen vor der Kamera noch immer völlig zurecht als Ausnahmeerscheinung kennt.
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